So eine Klappkamera habe ich auch noch, leider nicht mehr
funktionstüchtig. Sie hatte auch den Compurverschluß, den man am Objektiv noch
einmal separat spannen muß. Außerdem kann ich mir gar nicht vorstellen, dafür
noch Filme zu bekommen. Die Fotografie ist ja einer dieser Komplexe, die durch
die Digitalisierung wohl am meisten umgestülpt wurde. Deshalb sind hier alle
Gegenstände museal. Ich vergleiche es mal mit einem anderen technisch-ökonomischen
System, der Musik: Hier wie dort ist die Hardware handlicher, mobiler, speicherfähiger
und billiger geworden. Der wichtige Unterschied ist aber, daß wir bei der Musik
nur als Konsumenten (und Kopierer) auftreten. Fotos machen wir selbst. Und vor
allem viel mehr. In der vordigitalen Zeit gab es Jahre, in denen ich kein
einziges Foto gemacht habe. Ich habe meinen Fotoordner gerade durchgezählt: pro
Jahr mache ich deutlich mehr als 1.000 Fotos.
Angeblich hat die Menschheit bislang 3,5 Billionen Fotos aufgenommen.
Zu Brockhaus-Zeiten wurden ungefähr 3 Milliarden Fotos pro Jahr aufgenommen.
Heute sind es deutlich mehr als 400 Milliarden pro Jahr. Das bedeutet auch,
dass ungefähr 10% aller jemals aufgenommen Fotos aus den letzten 12 Monaten
stammen. Wahrscheinlich sind es überwiegend Selfies. Auch komisch: der Begriff
Selfie hat erst seit ca. 2012 Karriere gemacht. Aber ein Selfie konnte man auch
schon 1970 mit einer Kodak Instamatic machen. Hat man aber nicht.
Etwas anderes: es ist ein uns näheres Zeitalter, wenn es schon Fotos
aus jener Zeit gibt, also vor allem seit der vorletzten Jahrhundertwende.
Alles, was davor liegt, ist optisches Paläozoikum. Deshalb oft auch
irritierend, wenn man Aufnahmen aus der Frühzeit der Fotografie betrachtet,
etwa aus dem amerikanischen Bürgerkrieg. Es existiert auch ein Foto von Mozarts
Witwe – und das ist seltsam anzuschauen, denn Mozart ist eindeutig aus der
Vor-Foto-Zeit, aus der Zeit von Zeichnung, Gemälde und Lithografie. Deshalb
scheint Constanze Mozart auf diesem Foto wie eine Zeitreisende, sehr
merkwürdig.
Und noch etwas anderes: früher war das Foto, abgesehen von den immer
etwas komischen Dia-Fotografen, immer zuerst als Papierexemplar vorhanden.
Nicht zufällig bedeutet das Wort Foto sowohl die eigentliche Aufnahme als auch
die physische Reproduktion. Nun ist Papier nicht nur geduldig, sondern auch
äußerst langlebig. Und so findet Elinor Richter jeden Sonntag für ihr
wundervolles Projekt „Found“ alte Schwarzweißfotografien in einer Flohmarktkiste, die durch welche
Fügung auch immer Jahrzehnte überdauert haben, die sie anschließend digitalisiert und ins Flickr stellt.
Dornröschenfoto, jahrzehntelang schlafend, jetzt wieder digital erweckt.
Quelle: Elinor Richter, Found |
Ich kann mir gar nicht vorstellen, daß heutiges privates Digitales so
langlebig ist. Ich habe mal in meinem Fotoordner nachgeschaut; es sind ca.
7.500 Fotos (weit mehr als ich dachte). Sie sind ein paar Mal von Festplatte zu
Festplatte zu USB umgezogen. Aber wird dieser Stick irgendwann einmal in einer
Flohmarkkiste liegen? Das ist wohl eher unwahrscheinlich. Es ist eher zu
vermuten, daß es in 20 Jahren extrem schwierig ist, überhaupt noch einen
USB-Stick auszulesen. Ich glaube, ich hab auch noch einige gescannte Fotos auf
3,5“-Disketten. Tja. Mittlerweile habe ich aber schon mal Abzüge gemacht von
ein paar schönen Fotos: meine Mutter am Herd beim Rouladenkochen, das
Kriegerdenkmal im Herbstlicht, Umarmung auf dem See, das Theater in voller
Opernbeleuchtung. Wie könnte man das nennen? Re-Analogisierung oder
Re-Physikalisierung? Ich bewahre die Aufnahmen achtlos in Fototaschen gesteckt
im Bücherregal auf, weil ich hoffe, so genau den richtigen Abflugwinkel zu
treffen, den das Schicksal von Gegenständen für den Flug in Flohmarktkisten
vorgesehen hat. Im Jahr 2070 werden sie dann von Elinors Enkelinnen in einer
solchen Kiste gefunden. Aber gut möglich, daß Flohmarkt dann schon eine App
ist.
Vor einiger Zeit habe ich mich
mal auf Foto-Blogs umgesehen (die übrigens zu 90% von jungen Frauen mit
teilweise viel Talent und Mühe gepflegt werden. Junge Männer daddeln offenbar
lieber auf der Playstation oder bohren in der Nase. Bücher lesen ja auch nur
noch Frauen. In 20 Jahren sind die Männer komplett abgehängt. Aber ok so.) Auf
diesen Foto-Blogs ist jedenfalls plötzlich analoge Fotografie der neueste heiße
Scheiß. Die jungen Damen sind vor allem begeistert, daß man auf das Ergebnis so
lange warten muß. „Film entwickeln“ – weird! Bemerkenswertersweise sehen die
Ergebnisse meist tatsächlich eher nach 1975 als nach 2015 aus, als würde die
Kamera lieber die Zeit ihrer Herstellung fotografieren. Man muß sich das noch
einmal vorbuchstabieren: Mädchen, die um die Jahrtausendwende geboren sind,
fotografieren mit 50 Jahre alter Ausrüstung die Gegenwart, lassen sie analog
entwickeln und Abzüge auf Papier produzieren. Anschließend digitalisieren sie das
Ergebnis und reproduzieren es im Internet, und es sieht aus wie die
Vorvergangenheit ihrer Urheberinnen. Puh. Der Inhalt eines Mediums ist ein anderes
Medium, äh.
Ja, und dann müßt ihr auch „den Film vollknipsen“. Wie damals eure
Mama, nach dem Italien-Urlaub. Und natürlich die Frage, „ob die Fotos was
geworden sind.“ Und in 40 Jahren, da werdet ihr in Flohmarktkisten nach meinen
Fotos kramen.
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