Heute mal etwas ganz anderes, ein superriesiges Megapost über ein einziges Thema. Aber was für eines!
Im Jahr 2015 ist die ganze Welt besetzt von digitalen Rechnern,
Excel-Tabellen und intelligenten Speicherchips. Die Geräte, mit denen man sich
sein Frühstück zubereitet (Toaster, Kaffeemaschine, Brettchen), sind deutlich
intelligenter als ihre Benutzer, gerade am frühen Morgen. Ein Fahrradtacho hat
mehr mehr Rechenleistung verbaut als die Apollo 11-Kapsel. Die eine Hälfe der
Welt läuft auf iOS, die andere auf Android. Die Geräte beherrschen die ganze
Welt, sie sind klug, und sie vergessen nichts. Die ganze Welt? Nein! Ein gar
nicht mal so kleines Unternehmen aus Nürnberg in Mittelfranken beugt sich
nicht. Das ist die Firma Faber-Castell. Die kennt ja jeder. Aber dazu kommen
wir gleich.
Es geht heute um Rechenschieber. Die große Zeit der Rechenschieber war
das letzte Jahrhundert, zwischen erstem Weltkrieg und den frühen Siebzigern.
Dann kommen die ersten Taschenrechner auf den Markt. Binnen weniger Jahre wird
der Markt pulverisiert. Man muß sich vorstellen, daß tatsächlich ein Rechenschieber
bei der ersten Mondlandung mitgeflogen ist – als Backupsystem. Das wäre so, als
würde sich heute Sebastian Vettel ein Klappfahrrad hinten in seinen Formel
1-Wagen packen. Der Rechenschieber fällt also in die Brockhaus-Zeit. Ich bin
sicher, der prozentuale Aufschlag auf die Kosten eines Brockhaus-Bands wurde
mit dem Rechenschieber berechnet. Wie denn auch anders? Es sind wunderschöne
Geräte, ein schlagender Beweis menschlichen Erfindungsreichtum.
In Deutschland gab es vor allem drei führende Hersteller von
Rechenschiebern: Aristo, Nestler und Faber-Castell. Aristo war der Firmenname
von Dehnert & Pape aus Hamburg. Nach dem schnellen Ende der Rechenschieber
wurden die Reste der Produktion an rotring übergeben. Es gibt auch heute noch
Aristo-Geodreiecke und ähnliches. Aber natürlich keine Rechenschieber mehr. Die
Firma Nestler aus dem Schwarzwald schleppte sich mit CAD-Technik noch bis in
die Neunziger, um sich dann auch auszuhauchen. Es gibt am selben Ort noch ein
namensgleiches Unternehmen, das Wellpappe herstellt. Meinen ersten
Rechenschieber hat mir mein Vater geschenkt, ein kleiner Nestler 123 aus seiner
Schreibtischschublade. Er hatte mir auch gezeigt, wie man ihn benutzt, aber ich
habe das sofort vergessen, weil es mir auch viel zu kompliziert war.
Schließlich war ich schon Generation Taschenrechner.
Ich möchte wenigstens ganz knapp versuchen zu erklären, wie
Rechenschieber funktionieren. Zunächst gibt es Skalen, die ganz einfach
übereinanderstehen. Zum Beispiel die Quadratskala. Schiebe ich den Läufer auf
5, steht oben 25. Wurzelziehen ist natürlich genau umgekehrt. Die
trigonometrischen Skalen funktionieren genauso. Addieren und subtrahieren geht
überhaupt nicht mit dem Rechenschieber. Das eigentlich Interessante ist aber Multiplizieren und Dividieren. Das
funktioniert deshalb, weil die Skalen des Rechenschiebers logarithmisch
skaliert sind. Bekanntlich ist das Produkt zweier Zahlen die Summe seiner
Logarithmen. Das war dann der Ausgangspunkt einer genialen Idee: Mit zwei
Linealen 4 und 2 zu addieren, heißt ja einfach nur, 2cm und 4cm
hintereinanderzulegen. Genau das macht der Rechenschieber. Nur kommt nicht 6
als Summe heraus, sondern man kann an der logarithmischen Skala 8 als Produkt
beider Zahlen ablesen.
Also, den Anfang (C-Skala, „1“) auf 2 stellen. 4 abmessen auf der C-Skala, das heißt dann = log 2+ log 4 = 4 mal 2 = 8, und das steht unten auf der weißen D-Skala |
Am Beispiel sieht man auch sofort, daß Dividieren genau umgedreht
funktioniert: Die 8 und 4 übereinander stellen, und dann kann man auf dem
Skalenanfang 2 ablesen. Der Rechenschieber gibt nie Stellen an (also ob das
Ergebnis 0.2, 2 oder 20 ist), deshalb muß man vorher interpolieren, was
ungefähr rauskommt. Auch beim Wurzelziehen muß man etwas achtgeben, weil die
Wurzel aus 900 keinesfalls das Zehnfache der Wurzel aus 90 ist. Desweiteren hat
ein 25cm-Stab eine Genauigkeit von 4 Stellen – aber nur, wenn man ein Adlerauge
hat und vorher die letzte Stelle im Kopf ermittelt – also 48 mal 68, da kann
schon ablesen, daß das Ergebnis mehr als 3260 ist; aber die 4 als letzte
korrekte Stelle muß man eben kurz vorher ausrechnen. Man sollte also bei der
Benutzung des Rechenschiebers kein vollendeter Mathetrottel sein.
Und es ist schön, mit diesen Skalen zu rechnen. Es ist keine binäre
Turingmaschine, sondern zwei gegenseitig versetzte Skalen, die man abzulesen
hat. Und schließlich muß noch eine Exegese erfolgen: sowohl die Anzahl der
Stellen als auch die letzte Stelle muß hinzuinterpretiert werden. Vielleicht so
wie der Unterschied, entweder eine Zeichnung anzufertigen oder ein Foto zu
knipsen.
Ihr wißt ja, daß ihr hier nie Links bekommt. Aber wer mal Lust hat,
das mit den Rechenschiebern
auszuprobieren, möge Aristo Multilog 970 Simulator in seine Rechenmaschine
eingeben. Schön gemachter Simulator, ein guter Stab Typ Darmstadt, mit sieben
Logarithmen-Skalen auf der Rückseite, also durchaus schon ein verschärftes
Teil.
Womit wir beim dritten Hersteller angekommen wären. Faber-Castell. Die
gibt es noch immer. Man kennt sie von den Farbstiften. Sie haben eine
Fabrikanlage, die 1,5 Milliarden Farbstifte pro Jahr herstellt. Das heißt, in
fünf Jahren könnte Faber-Castell so viel davon herstellen, um jeden Erdenbürger
mit einem Buntstift auszustatten. Das würde die Welt wahrscheinlich besser
machen.
Die Rechenschieberproduktion wurde ebenfalls Anfang der Siebziger
eingestellt. Aber jetzt das Unglaubliche: sie haben noch immer Lagerbestände.
Man kann im Faber-Castell-Onlineshop fabrikneue Rechenschieber bestellen. Fabrikneu
bedeutet, sie sind noch nie benutzt worden, aber sie liegen schon einige Zeit
herum, klar. Der Online-Shop von Faber-Castell ist cool und ganz klar 21.
Jahrhundert mit allem Schnickschnack. Sich registrieren mit Double-Opt-In.
Rechenschieber in den in den Warenkorb. Zur Kasse über den HTTPS-Server. Mit
der Mastercard-Schnittstelle Verifikationscodes via SMS austauschen.
Bestellung abschließen. In Lichtgeschwindigkeit bimmelt eine Bestätigungs-Email
ein. Und dann, sieben Minuten später, die Versandbestätigung. Nicht schlecht.
Und zwei Tage später erhalte ich drei Rechenschieber, die bis zu 50
Jahre im Lager vorrätig gehalten wurden. Das ist ungefähr so, als würde ich
einen chromblitzenden, nagelneuen Borgward Isabella bei amazon bestellen. Ich
finde das seltsam aus der Welt gefallen. Ich meine, in dieser
google-amazon-shareholder value-Welt noch Rechenschieber zu verkaufen, das
zeugt von Mut. Das ist Grandezza! Faber-Castell ist also ein Unternehmen, das
ihre wunderschönen Rechenschieber nicht einfach wegschreddert, sondern sie
sorgfältig aufbewahrt und noch Jahrzehnte später verkauft. Nicht ganz günstig,
muß man dazu sagen. Wahrscheinlich kichern aber die Rechenschieber in den
Nürnberger Regalen hämisch vor sich hin, daß Taschenrechner mittlerweile für
ein paar Cent im Pennymarkt verramscht werden und die eigentlich kein Mensch
mehr braucht. Meine iphone-Taschenrechner-App zieht die Wurzel aus 2 mit 15
Stellen. Taschenrechner, wofür bitte?
Außerdem muß dort in Nürnberg die merkwürdigste Verschränkung von
Vergangenheit und Gegenwart herrschen. Ich stelle mir vor, wie sie bei
Faber-Castell in einem großen Kontor sitzen, an langen Birnbaumholztischen.
Rollschränke, Schreibtischunterlagen, Telephonapparate. Herr Maier zieht gerade
seine Ärmelschoner zurecht und greift nach der Löschwiege. Aber direkt neben
ihm sitzt Herr Schmidt, der gerade ein Java Enterprise Edition 7 Update auf den
Webserver des Onlineshops aufspielt, der in der Ecke sanft vor sich hinschnurrt
wie eine Ofenkatze. Und die nette Frau Schaklies, mit der ich einige Emails
austauschte. Sie arbeitet in der Abteilung „Customer Care“. Aber das ist
wahrscheinlich nur Tarnung nach außen, und im Unternehmen heißt die Abteilung
einfach „Verkauf“. Sie sitzt einige Reihen weiter und ißt gerade ein Käsebrötchen.
So geht das zu bei Faber-Castell, denke ich mir.
So, jetzt biege ich endlich ab zu meinem Rechenschieber-Haul:
Zuerst der 111/87 Rietz, ein typischer Mittelklasse-Stab mit 25cm
Länge. Läufer und Zunge gehen butterweich. Auf dem Läufer ist noch eine
kw-PS-Umrechnung untergebracht. Der Opel Rekord der Rechenschieber. Übrigens
hat Faber-Castell auch noch die originalen Verpackungen und Gebrauchsleitungen.
Wunderschön.
Dann den „Disponent“ 1/22. Das ist ein kaufmännischer Rechenstab, auch
der älteste Stab, zum Teil aus Holz. Er hat eine Seitenskala, und da ist
tatsächlich die Umrechnung 1 englisches £ = 20 Shilling = 240 Pence
untergebracht. Diese alte britische Stückelung wurde 1971 abgeschafft. Und ich hab
sie auf meinem Rechenstab. Es gibt hinsichtlich der Skalen einige
Besonderheiten, sodass ich die Anleitung komplett durchgearbeitet habe. Man
staunt Bauklötze, wie tricky die Rechenwege sind. Und was in dem Stab alles
noch verbaut ist. Direkte Umrechnung des russischen Längenmaßes Arschin
(0,71m). Kein Problem mit dem Faber-Castell 1/22 Disponent.
Britannia rules the waves ruler |
Der Faber-Castell 2/83N. Der Mercedes Flügeltürer unter den
Rechenstäben. Selbst Cliff Stoll, der vor einigen Jahren einen interessanten
Fachartikel in SCIENCE über Rechenschieber geschrieben hat („When Slide Rulers
Ruled“), räumt dem 2/83 N gegenüber ein, er sei vielleicht “the finest and most beautiful slide rule ever made”. Er hat auch als
nahezu einziger Rechenschieber die legendäre W-Skala, mit der sich die
Genauigkeit noch einmal verdoppelte. Aber natürlich: 30 Skalen. Das ist dann
schon sehr überfeinert. Rechenschieber-Rokoko. Wie auch immer: wenn ich drei
Wünsche freihätte für Hilfsmittel für alle Abenteuer der Welt, dann wären das
der Henrystutzen, also das sagenhafte Gewehr bei Karl May, dann Nothung, das
Zauberschwert in den Nibelungen, und der Faber-Castell 2/83N Novo Duplex.
Beim 2/83N fehlt vielleicht nur noch eine einzige Skala, für die
Berechnung des Lebens, des Universums und des Rests. Sie würde natürlich immer
42 anzeigen.
Schöner Artikel über ein wichtiges Ingenieurswerkzeug. Vor einigen Jahren habe ich von meinem Vater dieses wunderschöne Stück bekommen, den ich auf der diesjährigen re:publica für das Techniktagebuch vorgeführt habe.
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