Haus. So ein Haus hat
mein Großvater Ende der Fünfziger gebaut, und ich bin darin aufgewachsen. In
den Illustration sind einige Extravaganzen eingebaut, die unser Haus nicht
hatte: ein Balkon, eine Garage im Keller, ein rundes Dachbodenfenster, und vor
allem kein Speisenaufzug. Ein Speisenaufzug! Das waren Zeiten, in denen ich ein
halb in den Rasen eingegrabenes Kutschenrad im Vorgarten mit Blumentöpfen für
den Gipfel des Mondänen hielt. Aber ein Speisenaufzug, das wäre wirklich
unvorstellbar gewesen. Meine Oma aus dem Erdgeschoß hätte dann Milchsuppe zu
uns in den ersten Stock fahren können! Unser Haus war ein Zweifamilienhaus. Wir
hatten dazu noch einen kleinen Anbau mit zwei Zimmern im Erdgeschoß und
Zwischenstock; tatsächlich ursprünglich in diesen Siedlerhäusern als
Schweinestall vorgesehen, war es im Erdgeschoß eine „Sommerküche“, wie meine Mutter
mir später erzählte, ich glaube, daß ist so etwas wie eine Einkochküche. - Als
ich sehr klein war, gab es auch noch die technische Ausstattung aus der
Brockhauszeit. Benutzt wurde bei meiner Oma tatsächlich noch der Badeofen, den
man mit Briketts stundenlang vorheizen mußte, bevor es warmes Wasser gab. Durch
das Vorheizen wurde allerdings dann auch das Badezimmer schön warm. Meine
Eltern hatten da schon den neuesten heißen Scheiß gekauft: einen
Durchlauferhitzer. Nur noch selten benutzt, aber noch vorhanden war die
Ausstattung der Waschküche: ein großer Bottich für Kochwäsche, der immer mit
Brettern abgedeckt war, damit ich da nicht hineinfalle. Oder eine
händisch zu bedienende Wäschemangel mit zwei Walzen. Dort unten im Keller war
allerdings auch etwas sehr Unheimliches. Es war die dunkle Ecke. Die Dunkle
Ecke lag unter dem Treppenhaus und war ein ungefähr fünf Meter langer Gang
unverputzter Hohlblocksteine, der auch noch um die Ecke bog. Ich hatte
wahnsinnig Angst vor der Dunklen Ecke, und wenn ich in den Keller gehen mußte,
um ein Glas eingekochte Birnen zu holen, drückte ich mich rechts an der
Treppenwand vorbei, um dem dunklen, unheimlichen Loch zu entgehen. Sehr toll
hingegen war der Dachboden. Um da rauf zu kommen, mußte man mit einem Haken
einen Verschluß in der Decke lösen, damit eine Klappleiter zum Vorschein kam,
die man herunterlassen konnte. Ich durfte nur mit, wenn meine Mutter dabei war
und Wäsche aufhing. Tatsächlich hieß er in unserer Familiensprache auch, wie im
Brockhaus, der „Trockenboden“. Der Trockenboden war, wie damals so üblich, kaum
ausgebaut, man sah buchstäblich auf die Rückseite der Dachpfannen. Zwei kleine
Fenster warfen ein schummriges Licht auf lauter alte Sachen, der mit alten
Bettüchern und Decken verhängt in den Ecken lag. Ein schiefer Kleiderschrank
enthielt weiteres altes Zeug aus vordenklichen Zeiten vor meiner Geburt. Oder
die uralte Truhe, in der die Krippenfiguren lagerten. Die Bettücher durfte ich
nicht wegziehen. Im Kleiderschrank nur hinschauen. In der Truhe, die unter
einem der winzigen Fenster stand, immerhin etwas herumkramen. Wir waren jetzt
so hoch, daß ich über die Dächer hinweg zum alten Kriegerdenkmal sehen konnte. Meine
Mutter mußte regelmäßig schimpfen, damit ich mich von diesem alten Kram losreißen
konnte und wieder vorsichtig die wacklige Leiter hinunterstieg. - Vielleicht
hätten Psychoanalytiker Spaß an meiner kindlichen metaphysischen Topologie: der
Himmel befinde sich über mir, die Hölle hingegen lauert zwei Stockwerke unter
mir. Der Himmel ist das Geheimnis, die Rätsel der Vergangenheit, die Hölle ist
das Dunkle, das Grauen des Unbekannten. Wenn man ans Eingekochte will, muß man
sich an der Hölle vorbeischleichen. Aus dem Himmel wird man von seiner Mutter
vertrieben. – Was sich der Brockhausillustrator unter „Veranda“ vorstellt, ist
auch eher merkwürdig. Wahrscheinlich hatte man das damals noch nie gesehen. Und
die strikt verandenorientierten Vorabendserien Waltons und Daktari hat es damal
ja noch nicht gegeben. - Sehr eigentümlich auch, wie man sich in der
Illustration oben links bemühte, alles doppelt und dreifach hineinzupacken: sowohl
einen „Prellstein“ als auch einen „Radabweiser“, ich finde, das ist doch das
gleiche. Desweiteren gibt es sowohl einen „Gurtgesims“ (auf Höhe des
Stockwerkes) als auch ein „Sohlbankgesims“ (auf der Höhe der Fensterbank).
Wovon ich aber bis heute noch nie gehört hatte, ist das „Kratzeisen“ (rechts
neben der „Freitreppe“). Ein Kratzeisen wurde am Hauseingang bereitgestellt, um
sich Dreck und Kacke aus den Schuhen zu kratzen, bevor man das Haus betrat.
Dafür hatten wir allerdings damals schon ein Fußmatte. Ich bin immer wieder
erstaunt, wie kompliziert das alte Leben in der Brockhauszeit war. Sie hatten
Kratzeisen, Haspen (H9), Wasserflughäfen (H3), Grudeöfen (G40), Gradierwerke
(G35) etc. etc., und sie hatten noch nicht mal eine App, um zwischen und mit
diesen Gerätschaften, Einrichtungen, Bewerkstelligungen und Inventaren klar zu
kommen. Ich vermute, das Leben zu diesen Zeiten war ungeheuer komplex und
stressig - das können wir uns in der Guten Neuen Zeit gar nicht mehr
vorstellen. Wenn man früher Geld überwiesen hat, dann mußte man in eine „Bankfiliale“
gehen, an einem „Schalter“ sich anstellen und dort ein „Überweisungsformular“
ausfüllen. Wahrscheinlich haben sie das Formular dann mit einer Pferdekutsche
weitertransportiert. Wahnsinn. Wie kompliziert das alles war! Ich glaube, die
hatten früher noch nicht mal Paketverfolgung. Das weiß ich allerdings nicht
genau.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Manchmal hat es Probleme mit der Kommentarfunktion gegeben. Bitte dann eine Mail an joachimgoeb@gmail.com Danke