Eisenbahn. Faszinierend, wie ausführlich oft sich der
technisch-wirtschaftliche Komplex der Eisenbahn im Brockhaus wiederfindet, im
Gegensatz zum Luftverkehr und dem Autoverkehr. Ich hatte oben schon einmal von
den mechanischen, elektrischen und digitalen Zeitaltern geschrieben, und
parallel, aber nicht zeitgleich in ihren Übergängen, dominierten Eisenbahn,
Auto und Flugzeug als Leitmotif für das Woandershinwollen. - Der
Wikipedia-Artikel über Bahnwärter ist interessant. So gab es früher nicht nur
Schrankenwärter, sondern Bahnwärter, welche die gesamte Strecke überwachten und
Lichtsignale über ankommende Züge weitergaben. Der technische Komplex Eisenbahn
war im 19. Jahrhundert noch so neu und ungewohnt, daß man glaubte, die Strecke
dauerhaft überwachen zu müssen. Hauptstrecken wurden dreimal täglich zu Fuß zu
kontrolliert. Und die durchschnittliche Entfernung zwischen zwei
Bahnwärterhäuschen betrug gerade einmal 625 Meter. Später wurden aus den
Bahnwärtern dann Schrankenwärter. Kein Job, bei dem man besoffen verschlafen
sollte. Es gibt in Deutschland tatsächlich auch heute noch 300 Schrankenposten
mit ca. 500 Schrankenwärtern, und die Zahl ist sogar wieder etwas gestiegen,
seitdem Bahnhöfe zu Zughaltestellen heruntergebaut wurden. –
Ich habe hier auch T27, Tunnel, hineinkopiert. Das hat einen
Grund, für den wir wahlweise 30 Jahre nach vorn (aus Sicht des Brockhauses)
oder 30 Jahre zurück (aus heutiger Sicht) müssen und im Jahr 1982 landen, bei
einigen Jugendlichen, die etwas zu viel Steppenwolf und Sangria intus haben.
Wir sitzen bei Christian zusammen und wir sind zutiefst davon überzeugt, daß
die Welt ein verlogenes Dreckloch ist. Das ist zwar eher eine Welterklärung
nach Schopenhauer als nach Hesse, aber Schopenhauer hat niemand von uns
gelesen. Dieser entsetzlichen Unerträglichkeit der Welt, das ist uns klar, kann
man auch vorsätzlich entkommen.
„Es ist gut zu wissen, wie man es machen wird“, sagt
Christian.
„Dann muß man auch nicht anfangen zu überlegen, wie man es
anstellt, wenn es so weit ist“, bestätigt Erik.
„Ja, und wie macht ihr es nun?“ fragt Olaf und schüttet sich
noch etwas Sangria nach.
„Ich habe den Bahnübergang an der Gleisstraße“, erklärt
Christian, „da kannst du dich auf die Schienen legen. Da kommt praktisch
niemand zufällig vorbei. Und die Bahnschranken gehen zwei Minuten vorher
herunter, wenn ein Zug kommt.“
Ich bin überrascht, daß Christian sich auch einen
Eisenbahntod ausgesucht habe. Und es freut mich sogar.
„Ich nehme auch etwas mit Schienen“, verkünde ich. „Und zwar
am Tunnel im Wald, und zwar auf dieser Seite des Bergs.“ Jeder von uns kennt
die Stelle. Eine Tunnelöffnung in dem schönen, hohen Eichenwald zwischen A. und
L., an einem bewaldeten Abhang. Der Friedhof liegt gleich dahinter.
Olaf verschüttet etwas vom Sangria. „Ich fahr zum Hause von
Tante Rita in der Hochofenstraße. Das hat 16 Stockwerke und man kommt ohne
Schlüssel auf das Dach. Ja, und dann lern ich fliegen.“
Wir sind beeindruckt. 16 Stockwerke, das ist schon echt durchgeknallt.
„Ich stecke mir eine Schrotflinte in den Mund.“ Erik
lehnt sich auf dem Sofa zurück an die Wand. „Und dann bumm. Gibt zwar eine
Riesensauerei, ist aber todsicher, bei Gott.“
Ich ärgere mich etwas über Eriks Angeberei. Woher will
er denn eine Schrotflinte bekommen? Obwohl – hat sein Vater nicht einen
Jagdschein? Oder war es ein Angelschein?
„Und du, Markus?“ fragt Olaf nach. Der zögert einen Moment.
„Nein, das ist nichts für mich“, sagt Markus, „es gibt immer
einen Ausweg.“
Auf dem Rückweg durch den Tunnelwald freue ich mich immer
noch über Christians und meinen gemeinsamen Bahntod. Es ist sogar dieselbe
Strecke, und Bahnübergang und Tunnel liegen zwei Kilometer auseinander. Ein
einziger Zug kann also über uns beide zusammen hinwegrollen. Und Markus, mit
seinem Ausweg, den es immer gibt, das finde ich echt ein bißchen kitschig.
Man wird Markus zwei Jahre später im Morgengrauen tot in
einem Strandkorb auf Sylt finden. - Letzten Sommer bin ich nach langer Zeit
wieder einmal am Tunnel gewesen. Er ist mehr als 800m lang. Die Tunnelöffnung
sieht genau so aus wie hier auf dem T27, vielleicht etwas kleiner. Wenn man an
einer ganz bestimmten Stelle sich hinstellt, kann man durch den ganzen Tunnel
schauen. Auf der anderen Seite es Tunnels flirrte das Licht im Sommerabend
hinter dem Berg. Der Wald rauschte leise. Das ist der Ort, an dem ich nicht
gestorben bin.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Manchmal hat es Probleme mit der Kommentarfunktion gegeben. Bitte dann eine Mail an joachimgoeb@gmail.com Danke