Freitag, 4. Oktober 2013

E05 - Eisenbahn (1)



Eisenbahn. Faszinierend, wie ausführlich oft sich der technisch-wirtschaftliche Komplex der Eisenbahn im Brockhaus wiederfindet, im Gegensatz zum Luftverkehr und dem Autoverkehr. Ich hatte oben schon einmal von den mechanischen, elektrischen und digitalen Zeitaltern geschrieben, und parallel, aber nicht zeitgleich in ihren Übergängen, dominierten Eisenbahn, Auto und Flugzeug als Leitmotif für das Woandershinwollen. - Der Wikipedia-Artikel über Bahnwärter ist interessant. So gab es früher nicht nur Schrankenwärter, sondern Bahnwärter, welche die gesamte Strecke überwachten und Lichtsignale über ankommende Züge weitergaben. Der technische Komplex Eisenbahn war im 19. Jahrhundert noch so neu und ungewohnt, daß man glaubte, die Strecke dauerhaft überwachen zu müssen. Hauptstrecken wurden dreimal täglich zu Fuß zu kontrolliert. Und die durchschnittliche Entfernung zwischen zwei Bahnwärterhäuschen betrug gerade einmal 625 Meter. Später wurden aus den Bahnwärtern dann Schrankenwärter. Kein Job, bei dem man besoffen verschlafen sollte. Es gibt in Deutschland tatsächlich auch heute noch 300 Schrankenposten mit ca. 500 Schrankenwärtern, und die Zahl ist sogar wieder etwas gestiegen, seitdem Bahnhöfe zu Zughaltestellen heruntergebaut wurden. –







Ich habe hier auch T27, Tunnel, hineinkopiert. Das hat einen Grund, für den wir wahlweise 30 Jahre nach vorn (aus Sicht des Brockhauses) oder 30 Jahre zurück (aus heutiger Sicht) müssen und im Jahr 1982 landen, bei einigen Jugendlichen, die etwas zu viel Steppenwolf und Sangria intus haben. Wir sitzen bei Christian zusammen und wir sind zutiefst davon überzeugt, daß die Welt ein verlogenes Dreckloch ist. Das ist zwar eher eine Welterklärung nach Schopenhauer als nach Hesse, aber Schopenhauer hat niemand von uns gelesen. Dieser entsetzlichen Unerträglichkeit der Welt, das ist uns klar, kann man auch vorsätzlich entkommen. 

„Es ist gut zu wissen, wie man es machen wird“, sagt Christian.
„Dann muß man auch nicht anfangen zu überlegen, wie man es anstellt, wenn es so weit ist“, bestätigt Erik.
„Ja, und wie macht ihr es nun?“ fragt Olaf und schüttet sich noch etwas Sangria nach.
„Ich habe den Bahnübergang an der Gleisstraße“, erklärt Christian, „da kannst du dich auf die Schienen legen. Da kommt praktisch niemand zufällig vorbei. Und die Bahnschranken gehen zwei Minuten vorher herunter, wenn ein Zug kommt.“

Ich bin überrascht, daß Christian sich auch einen Eisenbahntod ausgesucht habe. Und es freut mich sogar.

„Ich nehme auch etwas mit Schienen“, verkünde ich. „Und zwar am Tunnel im Wald, und zwar auf dieser Seite des Bergs.“ Jeder von uns kennt die Stelle. Eine Tunnelöffnung in dem schönen, hohen Eichenwald zwischen A. und L., an einem bewaldeten Abhang. Der Friedhof liegt gleich dahinter.
Olaf verschüttet etwas vom Sangria. „Ich fahr zum Hause von Tante Rita in der Hochofenstraße. Das hat 16 Stockwerke und man kommt ohne Schlüssel auf das Dach. Ja, und dann lern ich fliegen.“
Wir sind beeindruckt. 16 Stockwerke, das ist schon echt durchgeknallt. 

„Ich stecke mir eine Schrotflinte in den Mund.“ Erik lehnt sich auf dem Sofa zurück an die Wand. „Und dann bumm. Gibt zwar eine Riesensauerei, ist aber todsicher, bei Gott.“
Ich ärgere mich etwas über Eriks Angeberei. Woher will er denn eine Schrotflinte bekommen? Obwohl – hat sein Vater nicht einen Jagdschein? Oder war es ein Angelschein?
„Und du, Markus?“ fragt Olaf nach. Der zögert einen Moment.
„Nein, das ist nichts für mich“, sagt Markus, „es gibt immer einen Ausweg.“ 

Auf dem Rückweg durch den Tunnelwald freue ich mich immer noch über Christians und meinen gemeinsamen Bahntod. Es ist sogar dieselbe Strecke, und Bahnübergang und Tunnel liegen zwei Kilometer auseinander. Ein einziger Zug kann also über uns beide zusammen hinwegrollen. Und Markus, mit seinem Ausweg, den es immer gibt, das finde ich echt ein bißchen kitschig.

Man wird Markus zwei Jahre später im Morgengrauen tot in einem Strandkorb auf Sylt finden. - Letzten Sommer bin ich nach langer Zeit wieder einmal am Tunnel gewesen. Er ist mehr als 800m lang. Die Tunnelöffnung sieht genau so aus wie hier auf dem T27, vielleicht etwas kleiner. Wenn man an einer ganz bestimmten Stelle sich hinstellt, kann man durch den ganzen Tunnel schauen. Auf der anderen Seite es Tunnels flirrte das Licht im Sommerabend hinter dem Berg. Der Wald rauschte leise. Das ist der Ort, an dem ich nicht gestorben bin.

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