Zelt. Ich bin in einem Nichtzelt-Haushalt aufgewachsen.
Weder haben wir jemals Zelturlaub gemacht noch besaßen wir überhaupt ein Zelt.
Wenn ich ehrlich bin – ich denke auch nicht, allzu viel verpaßt zu haben.
Irgendwie ist mir der feste Raum doch sehr viel lieber, auch und gerade in
Ferienzeiten. So hat es lange gedauert, bis ich überhaupt zum Zelten kam; ich
glaube fast, es war fast der Klassenausflug zum Halterner Stauseee, in der
achten Klasse, im Sommer 1978.
Die Kinder aus Zelt-Haushalten hatten dann natürlich ein
eigenes Zelt mitgenommen und konnten dann noch ein Nichtzeltkind in ihr Zelt einladen.
Ich war weder ein Zeltkind noch war ich mit einem Zeltkind so dicke, für vier
Tage eingeladen zu werden. Für uns Zeltwaisen war dann ein großes, weißes
Gemeinschaftszelt vorgesehen, das man sich von der Kirchengemeinde geliehen
hatte (Kirchen haben so etwas einfach). Wir schliefen darin zu acht oder neunt,
was natürlich auch lustiger war als in einem puritanischen Besitzzelt. Wir
hatten auch nicht so spießige Regeln wie Schuheausziehen oder so etwas.
Andererseits war es genau so albern wie man sich das unter Vierzehnjährigen
vorstellt. Furzwettbewerbe. Rülpswettbewerbe.
Und noch viel schlimmer. In Frühjahr dieses Jahres war
„Roots“ zum erstenmal im deutschen Fernsehen gelaufen. Mit argen Folgen für
unser kindliches Gemüt. Nein, wir waren vom Schicksal des entführten Sklaven Kunta Kinte nicht ergriffen
und beeindruckt. Nein, es war ganz anders. Wir beschimpften uns gegenseitig als
„Nigger“ und ernannten uns selbst zum Massa. Wenn man jemanden im Schwitzkasten
hatte, brüllte man ihm ins Ohr: „Wer ist ein Nigger?“ „Hmmff, ich“ „Und wer ist
dein Massa?“ „Pfff, du.“ Ja, das war alles nicht richtig, sondern fürchterlich.
Nigger & Massa hatten in Windeseile die bisher führende Schmähung als
„Mongo“ abgelöst, die wiederum durch eine Serie, nämlich „Unser Walter“ einige
Jahre vorher den Weg auf die Schulhöfe gefunden hatte. Ja, wir waren super, wir waren auf dem
besten Weg zur Hochschulreife. Es war uns eigentlich klar, daß wir schon zu alt
waren für solchen Quatsch. Aber irgendwann hatte jemand damit angefangen, und
dann war es vorbei mit Anstand und Charakter und wir ließen unsere kleine
rassistische Sau heraus. Viele Jahre später befragt, behauptete jeder zwar,
sich daran erinnern zu können, aber selbst eigentlich gar nicht mitgemacht zu
haben.
Natürlich habe ich eigentlich auch nicht mitgemacht. Ich
glaube, ich habe keine einzige Folge „Roots“ gesehen, übrigens. Wenn die Eltern
etwas nicht geguckt haben, dann hat man das selbst auch nicht gesehen (für
heutige Kinder wohl sehr seltsam – Eltern gucken nicht „13 Reasons Why“, ja
und?). Höchstens einmal, wenn es WIRKLICH wichtige Sachen ging, z.B.
Adventsvierteiler, dann konnte man mitentscheiden. Aber doch nicht bei „Roots“.
Wir fuhren also auf unseren Rädern die 45km von Dortmund
nach Haltern. Zwischendurch gab es eine Badepause, keine Ahnung heute mehr,
welches Gewässer das gewesen ist. Achja, ich denke, ein Foto kann ich noch ohne
Namensnennung posten, zumal kaum Gesichter zu erkennen sind. Ich bin übrigens
nicht drauf. Rote T-Shirts waren im Sommer 1978 übrigens der heiße Scheiß. Ich
glaube, die kommen bald einmal wieder.
Badepause auf dem Weg nach Haltern |
Dann wurden die Zelte aufgebaut. Nachdem die Zeltkinder
ihre eigenen Zelte in zwanzig Sekunden aufgebaut hatten, halfen sie uns
Benachteiligten (den Zeltniggern, sozusagen) beim Aufbau der Kirchenzelte. Ich
bekam einen Platz links neben dem Eingang und pumpte meine Luftmatratze auf. Es
hat sich ein Foto überliefert aus jenen Tagen. Ich bin der Junge unten mit dem
roten T-Shirt (na klar!). Neben mir, mit der ZACK-Kappe, ist Ricardo, der
spanische Austauschschüler. Nachdem ich endlich zuende gepumpt hatte, spielten
wir Fußball auf einem Sandplatz, was super war.
Die halbe Nacht haben wir danach damit zugebracht, um
hintereinander herzuschleichen. Ich denke, heutzutage ist das mit 14
entspannter, aber zu jener Zeit war das Verhältnis zwischen Mädchen und Jungen
noch sehr komplex. Es war nicht so wie mit elf oder zwölf, als man mit keinem
Mädchen sprechen konnte, ohne als „Weiberheld“ verspottet zu werden. Nein, man
konnte schon durchaus mit Mädchen sprechen. Einige hatten sogar schon
„Erfahrungen“, wobei sich diese halb ausgedachten, halb erfundenen Ereignisse
auf sogenannten „Feten“ abspielten, auf die ich nicht eingeladen war.
Man konnte Mädchen „gut finden.“ Zu sagen, man sei
verliebt, war eher nicht ratsam. Ein Mädchen „gut zu finden“, bedeutete
letzthin nichts anderes, aber es klang viel harmloser und unverfänglicher. Gut
finden konnte man auch Himbeerbonbons, Wicki oder adidas-Sportschuhe. Würde
eventuell mal herauskommen, daß man ein Mädchen gut fand, konnte man noch immer
schulterzuckend sagen: „Na und? Ich finde viele Sachen gut!“ Außerdem verband
Gutfinden kein explizites Ziel mit dem Zustand. Wenn man verliebt gewesen wäre,
hätte man den Geliebten erobern wollen. Gutfinden war etwas, das ohne Zweck
oder bestimmtes Ziel passieren konnte. Status Quo und Queen wurden ja auch so
ganz ziellos gut gefunden. Und so konnte man – unter dem Siegel der
Verschwiegenheit – auch einem sehr guten Freund erzählen, wen man gut fand. Oder
man wurde glatt gefragt: „Und wen findest du gut?“ Ein weiterer Vorteil des
Gutfindens gegenüber einer Verliebtheit war auch eine sehr eingeschränkte Exklusivität. Man konnte drei
oder vier Mädchen gleichzeitig gut finden. Heute nennt man so etwas wie
Gutfinden ein Mem. Ein Mem bedingt allerdings seine eigene Relativität, als
einfach nur so Gedachtes. Wir hatten das Gutfinden als Tatsächliches. Das
Gutfinden von 1978 hatte keine Vorbedingungen, Absicherungen oder
Relativierungen. Es war einfach da.
Aber das Gutfinden war ungerecht verteilt. Mindestens die
Hälfte aller Jungs fand Iris gut. Iris war die beste Schülerin der Klasse, die
beste Sportlerin der Schule, sie sah bildhübsch aus und war dazu noch
freundlich und nett. Iris gut zu finden war ein bißchen so wie einige Jahre
später für Weltfrieden und Abrüstung zu sein. Iris war uneingeschränkt
konsensfähig. Ich fand Iris gut. Übrigens fand Iris später Weltfrieden und
Abrüstung gut. Ich auch.
Es wäre arg pointiert zu behaupten, wir wären uns direkt
von Schulhofrassisten zu Friedensbewegten entwickelt, aber sehr viel Zeit lag
nicht dazwischen. Echt nicht. Wir sprechen hier vom Sommer 1978. Im November
1979 gab es den NATO-Doppelbeschluß, und im nächsten Jahr ging es dann richtig
los. Auch hier spielten die Mädchen eine wichtige Rolle, die das
Massa-Nigger-Spiel sowieso schwachsinnig gefunden hatten, alle. Sie klebten
Friedenstauben auf ihre Tornister, fingen an, im Unterricht Pullover zu
stricken und dem Politiklehrer zu widersprechen. 14jährige Mädchen sind viel
vernünftiger als gleichaltrige Jungs. Wir waren doch voll die Mongos.
Davon wußten wir aber alle noch nichts, als wir in
stockdunkler Nacht auf dem Halterner Zeltplatz herumschlichen. Ich hatte eine
Super-Taschenlampe, ich glaube, sie war von Daimon (eine Firma, die leider auch
verglüht ist) und ziemlich neu, aus blauem Kunststoff und deutlich
leuchtstärker als die Lampen der anderen. War ich auch ein Zeltneger – das
hellste Licht auf dem Zeltplatz war von mir. Der Jugendzeltplatz am Halterner Stausee war nach
Mädchen und Jungen getrennt, und Gruppen von Jungen versuchten Gruppen von
Mädchen zu finden, vorzugsweise mit Mädchen, die sie gut fanden. Die Mädchen
fanden wiederum Ricardo gut, der erst zum Anfang des Schuljahres gekommen war,
und saßen mit ihm am Stauseeufer herum. Ich fand das ungerecht. Er war doch
ganz neu, hatte sich doch noch gar nichts verdient, und sprach außerdem kaum
Deutsch. Ricardo saß also im Kreis guter Mädchen, und wir anderen leuchteten
doof durch die Nacht.
Nach vier Tagen fuhren wir wieder nachhause. Ich war so
dreckig, daß die Badwanne einen tiefschwarzen Rand bei Füllhöhe mit Joachim
hatte. Dann habe ich 14 Stunden geschlafen.
P.S. Iris ist Biologin geworden und nach Kanada
ausgewandert. Sie hat drei wunderbare Töchter und mich letztes Jahr in Berlin
besucht. - Über Ricardo weiß ich nichts weiter.
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