Hut. Ungefähr tausend
Jahre gingen Mann und Frau nicht vor der Tür, ohne einen schönen Hut
aufzusetzten. Wobei natürlich in den Zeitläuften der schöne Hut sehr verschieden
schön war – ob hoch oder flach, mit oder ohne Krempe, mit oder ohne
eingeklappter Krempe, mit oder ohne Feder, Band und Kordel, in braun, schwarz,
grün und so weiter und so weiter. Und dann, eine Handvoll Jahre nach unserem
Brockhaus, ist es plötzlich vorbei. Schon 1955 fühlt sich ein gewisser Hartwig
Gottwald berufen, die „Arbeitsgemeinschaft Hut“ zu gründen und hatte damit die
gesamte Industrie, „vom Stumpen-Großhändler bis zur kleinsten Putzmacherin“ –
„unter einen Hut gebracht“, wie SPIEGEL OFFLINE witzelte. Unglaublich: dieser
Hartwig Gottwald, später hessischer CDU-Politiker, scheint heute 96jährig noch
immer am Leben zu sein. Der Mann hat allerdings in den letzten 50 Jahren noch
einiges mehr an verbreiteter Hutlosigkeit sehen müssen. Ab ungefähr 1960
scheint seine Arbeitsgemeinschaft Hut den Kampf endgültig zu verlieren.
Angeblich auch wegen der immer stärkeren Verbreitung des Autos. Mein Opa hatte
stets einen Hut auf und ist auch mit ihm auf dem Kopf autogefahren. Obwohl – er
war ziemlich klein, und durch steigende Körpergröße durch bessere Ernährung
wurde es für Hutchauffeure immer schwieriger. Bei den heutigen SUVs dürfte das
allerdings kein Problem mehr darstellen (aufgepaßt, Hartwig Gottwald: „Man
fährt wieder einen Hut.“) Mein Opa hatte immer so einen Hut wie den in der
Detailzeichnung. Wahrscheinlich nennt man ihn Fedora. Diesen Namen kenne ich,
so heißt eine Linux-Distribution von Red Hat. Mein Vater wiederum bevorzugte
kleinere Exemplare, die man – glaube ich – Trilby nennt. Meine Unsicherheit
rührt nicht zuletzt daher, nie einen Hut besessen zu oder aufgehabt zu haben, außer
zu Karneval. Ich hätte auch erhebliche Probleme mit der korrekten Benutzung im
täglichen Verkehr. Vor einer Frau zieht man den Hut. Vor einem Mann nicht? Nie?
Behält man in der U-Bahn den Hut auf? Auf dem U-Bahnsteig? Tausend Jahre hat es
gedauert, um ein komplexes Regelwerk für den Hut auszubilden, eine Grammatik
des Hutes, und binnen einiger Jahrzehnte ist alles vergessen bis auf ein paar
Brocken, die man in alten Filmen gesehen hat. – Manchmal habe ich bei der
Abfassung dieser Aufsätze den Eindruck, viel mehr sei in den letzten 60 Jahren
verschwunden als neu hinzugekommen. Berlin hatte z.B. 1936 ungefähr 250
Hutgeschäfte. Ist es eine zeitoptische Täuschung, daß mir die Brockhauswelt von
1952 reichhaltiger und komplexer vorkommt als die Gegenwart? Nehme ich damaliges
Alltägliches als außergewöhnlich wahr, während ich Heutiges als
Selbstverständliches nicht mehr sehen kann? Hm. Es ist wohl eine Legende die
Welt sei komplizierter, schneller, unübersichtlicher geworden. Es gibt 18 Sorten
Milkaschokolade und 350 verschiedene Linux-Distributionen. Aber es gibt keine
Hüte mehr, keine Hutständer, kaum mehr Hutgeschäfte, keine Hutbürsten, in den
Hutschachteln sind nur mehr Torten, der Hut wird nicht mehr vom Kopf gezogen
und der eigene Name nicht mehr golden ins Schweißband geprägt - der gesamte
Komplex ist verschwunden, und zwar ersatzlos, lebendig allenfalls als
Scherzartikel oder modische Schrulle. Chateaubriand berichtete mal von einige Völkern
am Orinoko, die so schnell ausstarben, daß von ihren Sprachen nur ein paar
Wörter übrig blieben, die freigelassene Papageien von den Bäumen
herunterriefen. - Vielleicht geht es bald auch den Mützen an den Kragen. Das
ist zwar unwahrscheinlich, aber das haben die Hutbarone damals auch gedacht. - Ich
werde die Arbeitsgemeinschaft Mütze gründen. Aber vorher zu Hartwig Gottwald
fahren.
Immerhin zwei Hutläden kenne ich in Berlin (Pankow und Mitte) - wahrscheinlich meistbesucht von Hipstern (die der Brockhaus sicherlich noch nicht kennt)...
AntwortenLöschenSehr interessante Einblicke und amüsante Beobachtungen - ich freue mich auf Freitags! Danke!
Da haben Sie natürlich recht, Nele, kein Hipster in der Brockhaus-Welt. Der Hipster von 1952 ist wohl eher der Stutzer, und den gibt es natürlich im Brockhaus. - Danke für Ihren netten Kommentar, und viel Spaß weiterhin!
LöschenAngeblich war es ja Kennedy, der seinerzeit der Hutmode den Todesstoß versetzte, indem er das Hütetragen seiner Frau überließ: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-43160219.html
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