Donnerstag, 2. November 2017

Z08 - Zelt







Zelt. Ich bin in einem Nichtzelt-Haushalt aufgewachsen. Weder haben wir jemals Zelturlaub gemacht noch besaßen wir überhaupt ein Zelt. Wenn ich ehrlich bin – ich denke auch nicht, allzu viel verpaßt zu haben. Irgendwie ist mir der feste Raum doch sehr viel lieber, auch und gerade in Ferienzeiten. So hat es lange gedauert, bis ich überhaupt zum Zelten kam; ich glaube fast, es war fast der Klassenausflug zum Halterner Stauseee, in der achten Klasse, im Sommer 1978.



Die Kinder aus Zelt-Haushalten hatten dann natürlich ein eigenes Zelt mitgenommen und konnten dann noch ein Nichtzeltkind in ihr Zelt einladen. Ich war weder ein Zeltkind noch war ich mit einem Zeltkind so dicke, für vier Tage eingeladen zu werden. Für uns Zeltwaisen war dann ein großes, weißes Gemeinschaftszelt vorgesehen, das man sich von der Kirchengemeinde geliehen hatte (Kirchen haben so etwas einfach). Wir schliefen darin zu acht oder neunt, was natürlich auch lustiger war als in einem puritanischen Besitzzelt. Wir hatten auch nicht so spießige Regeln wie Schuheausziehen oder so etwas. Andererseits war es genau so albern wie man sich das unter Vierzehnjährigen vorstellt. Furzwettbewerbe. Rülpswettbewerbe.



Und noch viel schlimmer. In Frühjahr dieses Jahres war „Roots“ zum erstenmal im deutschen Fernsehen gelaufen. Mit argen Folgen für unser kindliches Gemüt. Nein, wir waren vom Schicksal des entführten Sklaven Kunta Kinte nicht ergriffen und beeindruckt. Nein, es war ganz anders. Wir beschimpften uns gegenseitig als „Nigger“ und ernannten uns selbst zum Massa. Wenn man jemanden im Schwitzkasten hatte, brüllte man ihm ins Ohr: „Wer ist ein Nigger?“ „Hmmff, ich“ „Und wer ist dein Massa?“ „Pfff, du.“ Ja, das war alles nicht richtig, sondern fürchterlich. Nigger & Massa hatten in Windeseile die bisher führende Schmähung als „Mongo“ abgelöst, die wiederum durch eine Serie, nämlich „Unser Walter“ einige Jahre vorher den Weg auf die Schulhöfe gefunden hatte. Ja, wir waren super, wir waren auf dem besten Weg zur Hochschulreife. Es war uns eigentlich klar, daß wir schon zu alt waren für solchen Quatsch. Aber irgendwann hatte jemand damit angefangen, und dann war es vorbei mit Anstand und Charakter und wir ließen unsere kleine rassistische Sau heraus. Viele Jahre später befragt, behauptete jeder zwar, sich daran erinnern zu können, aber selbst eigentlich gar nicht mitgemacht zu haben.



Natürlich habe ich eigentlich auch nicht mitgemacht. Ich glaube, ich habe keine einzige Folge „Roots“ gesehen, übrigens. Wenn die Eltern etwas nicht geguckt haben, dann hat man das selbst auch nicht gesehen (für heutige Kinder wohl sehr seltsam – Eltern gucken nicht „13 Reasons Why“, ja und?). Höchstens einmal, wenn es WIRKLICH wichtige Sachen ging, z.B. Adventsvierteiler, dann konnte man mitentscheiden. Aber doch nicht bei „Roots“.



Wir fuhren also auf unseren Rädern die 45km von Dortmund nach Haltern. Zwischendurch gab es eine Badepause, keine Ahnung heute mehr, welches Gewässer das gewesen ist. Achja, ich denke, ein Foto kann ich noch ohne Namensnennung posten, zumal kaum Gesichter zu erkennen sind. Ich bin übrigens nicht drauf. Rote T-Shirts waren im Sommer 1978 übrigens der heiße Scheiß. Ich glaube, die kommen bald einmal wieder.

Badepause auf dem Weg nach Haltern





Dann wurden die Zelte aufgebaut. Nachdem die Zeltkinder ihre eigenen Zelte in zwanzig Sekunden aufgebaut hatten, halfen sie uns Benachteiligten (den Zeltniggern, sozusagen) beim Aufbau der Kirchenzelte. Ich bekam einen Platz links neben dem Eingang und pumpte meine Luftmatratze auf. Es hat sich ein Foto überliefert aus jenen Tagen. Ich bin der Junge unten mit dem roten T-Shirt (na klar!). Neben mir, mit der ZACK-Kappe, ist Ricardo, der spanische Austauschschüler. Nachdem ich endlich zuende gepumpt hatte, spielten wir Fußball auf einem Sandplatz, was super war.


 

Ricardo, ich, und das Kirchenzelt (und andere)



Die halbe Nacht haben wir danach damit zugebracht, um hintereinander herzuschleichen. Ich denke, heutzutage ist das mit 14 entspannter, aber zu jener Zeit war das Verhältnis zwischen Mädchen und Jungen noch sehr komplex. Es war nicht so wie mit elf oder zwölf, als man mit keinem Mädchen sprechen konnte, ohne als „Weiberheld“ verspottet zu werden. Nein, man konnte schon durchaus mit Mädchen sprechen. Einige hatten sogar schon „Erfahrungen“, wobei sich diese halb ausgedachten, halb erfundenen Ereignisse auf sogenannten „Feten“ abspielten, auf die ich nicht eingeladen war.



Man konnte Mädchen „gut finden.“ Zu sagen, man sei verliebt, war eher nicht ratsam. Ein Mädchen „gut zu finden“, bedeutete letzthin nichts anderes, aber es klang viel harmlo­ser und unverfänglicher. Gut finden konnte man auch Himbeerbonbons, Wicki oder adidas-Sportschuhe. Würde eventuell mal herauskommen, daß man ein Mädchen gut fand, konnte man noch immer schulterzuckend sagen: „Na und? Ich finde viele Sachen gut!“ Außerdem verband Gutfinden kein explizites Ziel mit dem Zustand. Wenn man verliebt gewesen wäre, hätte man den Gelieb­ten erobern wollen. Gutfinden war etwas, das ohne Zweck oder bestimmtes Ziel passieren konnte. Status Quo und Queen wurden ja auch so ganz ziellos gut gefunden. Und so konnte man – unter dem Siegel der Verschwiegenheit – auch einem sehr guten Freund erzählen, wen man gut fand. Oder man wurde glatt gefragt: „Und wen findest du gut?“ Ein weiterer Vorteil des Gutfindens gegenüber einer Verliebtheit war auch eine sehr  eingeschränkte Exklusivität. Man konnte drei oder vier Mädchen gleichzeitig gut finden. Heute nennt man so etwas wie Gutfinden ein Mem. Ein Mem bedingt allerdings seine eigene Relativität, als einfach nur so Gedachtes. Wir hatten das Gutfinden als Tatsächliches. Das Gutfinden von 1978 hatte keine Vorbedingungen, Absicherungen oder Relativierungen. Es war einfach da.



Aber das Gutfinden war ungerecht verteilt. Mindestens die Hälfte aller Jungs fand Iris gut. Iris war die beste Schülerin der Klasse, die beste Sportlerin der Schule, sie sah bildhübsch aus und war dazu noch freundlich und nett. Iris gut zu finden war ein bißchen so wie einige Jahre später für Weltfrieden und Abrüstung zu sein. Iris war uneingeschränkt konsensfähig. Ich fand Iris gut. Übrigens fand Iris später Weltfrieden und Abrüstung gut. Ich auch.



Es wäre arg pointiert zu behaupten, wir wären uns direkt von Schulhofrassisten zu Friedensbewegten entwickelt, aber sehr viel Zeit lag nicht dazwischen. Echt nicht. Wir sprechen hier vom Sommer 1978. Im November 1979 gab es den NATO-Doppelbeschluß, und im nächsten Jahr ging es dann richtig los. Auch hier spielten die Mädchen eine wichtige Rolle, die das Massa-Nigger-Spiel sowieso schwachsinnig gefunden hatten, alle. Sie klebten Friedenstauben auf ihre Tornister, fingen an, im Unterricht Pullover zu stricken und dem Politiklehrer zu widersprechen. 14jährige Mädchen sind viel vernünftiger als gleichaltrige Jungs. Wir waren doch voll die Mongos.



Davon wußten wir aber alle noch nichts, als wir in stockdunkler Nacht auf dem Halterner Zeltplatz herumschlichen. Ich hatte eine Super-Taschenlampe, ich glaube, sie war von Daimon (eine Firma, die leider auch verglüht ist) und ziemlich neu, aus blauem Kunststoff und deutlich leuchtstärker als die Lampen der anderen. War ich auch ein Zeltneger – das hellste Licht auf dem Zeltplatz war von mir. Der Jugendzeltplatz am Halterner Stausee war nach Mädchen und Jungen getrennt, und Gruppen von Jungen versuchten Gruppen von Mädchen zu finden, vorzugsweise mit Mädchen, die sie gut fanden. Die Mädchen fanden wiederum Ricardo gut, der erst zum Anfang des Schuljahres gekommen war, und saßen mit ihm am Stauseeufer herum. Ich fand das ungerecht. Er war doch ganz neu, hatte sich doch noch gar nichts verdient, und sprach außerdem kaum Deutsch. Ricardo saß also im Kreis guter Mädchen, und wir anderen leuchteten doof durch die Nacht.



Nach vier Tagen fuhren wir wieder nachhause. Ich war so dreckig, daß die Badwanne einen tiefschwarzen Rand bei Füllhöhe mit Joachim hatte. Dann habe ich 14 Stunden geschlafen.



P.S. Iris ist Biologin geworden und nach Kanada ausgewandert. Sie hat drei wunderbare Töchter und mich letztes Jahr in Berlin besucht. - Über Ricardo weiß ich nichts weiter.









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