Kirche. Das habe ich schon bei Wilfried Koch gelernt, Baustilkunde: bei
einer Hallenkirche sind die Seitenschiffe gleich hoch wie das Zentralgewöbe,
bei einer Basilika sind sie niedriger. Und wenn es so richtig riesig werden
soll, dann ist technisch die Basilika die bessere Lösung, da der Druck des
Zentralgewölbes auf die Seitenschiffe abgeleitet werden kann. Rechts unten
sieht man die Kathedrale von Laon (Frühgotik). Hier gibt es etwas Besonders: es
ist an den Türmen ganz winzig zu sehen, an den Turmrändern über der
Beschriftung „Eckturm“ und unter „Wasserspeier“ – es sind 16 Vollplastiken von
Ochsen, die in die Türme eingebaut sind und zwischen den Säulen hervorgucken.
Das ist in der abendländischen Architektur einzigartig: 16 Rindviecher auf dem
Turm der Kathedrale. Und: man hat verschusselt, warum sie dort sind. Wikipedia
vermutet etwas vom Salomonischen Hof, aber das ist gewiß Unsinn, denn man hat
es schlicht und ergreifend vergessen. Schon wieder etwas, das die Menschheit
vergessen hat, aber eindeutig mal gewußt hat. Das ist uns hier schon mehrfach
begegnet, z.B. beim Brettspiel Salta (B53), beim Hutziehen (G39) oder der
Herkunft der Tonsur (H1). Wir sind eine Vergessenskultur. Da steht jetzt seit
800 Jahren eine Kuhherde auf den Türmen, und keiner weiß mehr, warum, toll. -
Kirchen waren nie besonders wichtigen Orte für mich. Meine erste Kirche war
eine Vorortkirche in Dortmund, 1964 gebaut und grau verputzt, ein typischer
neusachlicher Sakralbau aus den Sechzigern. Über den Eingang war die Orgel
eingebaut, daneben Tafeln mit Weltkriegstoten, auch der Bruder meines
Großvaters stand darauf. An den Seiten hingen Holzreliefs mit der Kreuzigungsgeschichte,
und da war noch der Beichtstuhl, der hier schon einmal unter B18 aufgetaucht
ist. Bis zur Kommunion und auch darüber hinaus mußte ich jeden Sonntag in die
Kirche und habe mich dort entsetzlich gelangweilt. Ich glaube, da habe ich
überhaupt Langeweile erst für mich erfunden. Ich habe mich immer gut
beschäftigen können, aber in der Kirche konnte ich nicht viel anderes als
sitzen und zur Abwechslung knien, und dann wieder sitzen, oder Auftstehen, und
dann wieder sitzen. Das hört sich jetzt deutlich abwechslungsreicher an als es
damals war. Kirche war noch langweiliger als Angeln (K23). Ich war noch zu
jung, um mich für Mädchen zu interessieren, sonst hätte ich die Zeit mit
Träumen vom Händchenhalten mir verkürzen können. Und das Langweiligste des Langweiligen,
das Auge im stillstehenden Orkan, das war die Predigt. Dort war immer die Rede
davon, wir sollten uns ein Beispiel nehmen, hauptsächlich an Jesus, oder an
anderen Leuten aus der Bibel, die nie zurückgeschlagen haben, sondern einfach
nur herumgequatscht haben, wenn ihnen einer eine Backpfeife gegeben hat. Das
hatte ich noch einige Minuten vorher beim Kegeljungen Karl May (K18) ganz
anders gelesen. Henrystutzen, Bärentöter, zack, bumm, von wegen andere Backe
hinhalten. Mann, war mir langweilig! Ich vertrieb mir die Zeit damit, eine
Minute genau abzuschätzen und erst wieder aufs Zifferblatt zu gucken, wenn ich
die 60 heruntergezählt hatte. Meistens war der Zeiger erst bei 45 oder gar 40.
Dann durch das Gesangbuch (Sursum Corda) blättern. Das war das langweiligste
Buch der Welt, aus lauter Kirchenliedern und Gebeten. Ich ließ die Finger durch
die Seiten laufen und versuchte, blind genau bei Seite 100 oder 200 oder 300 zu
stoppen, was gar nicht so einfach war. Dann endlich die Kommunion. Das war auch
langweilig, aber ein Licht am Ende des Tunnels. Weihrauchgeruch. – In der
kleinen westfälischen Stadt, in der ich mal wohnte, war das Wohnzimmer genau
gegenüber einer hübschen evangelischen Kirche. Jedesmal, wenn das Geläut
anfing, bin ich vor Schreck fast vom Sofa gefallen, obwohl es ja immer
dieselben Zeiten waren. Es war ein kein gemessenes, feierliches Läuten, sondern
das aggressive, hysterische, freudlose Bimmeln einer evangelischen
Diasporakirche, nervend wie eine Käßmannpredigt. Schlimmer noch: am Donnerstagabend
übte immer der Gospelchor. Das war wirklich fürchterlich. Zum Glück hat der
liebe Gott nicht nur den Gospel, sondern auch den Kopfhörer erfunden, und so
konnte ich dann Oh happy Day durch Ornette Coleman neutralisieren. - Aber sonst
war mein Interesse an Kirchen eher kunsthistorisch. Bis auf eine Ausnahme: zu
den Dingen, die mir Erica beigebracht hat, gehört auch das Anzünden
einer Kerze in einer Kirche. Für alle Freunde und Verwandten, die es brauchen. Und
natürlich für jene, die von uns gehen mußten. Ich gehe dazu gern in die
Berliner Gedächtniskirche. Nicht gerade ein stiller Ort, aber der Innenraum hat
schönes blaues Licht. Rechts hinten ist ein großer Ständer, auf dem meist schon
weit mehr als hundert Lichter brennen. Und wenn man eine Kerze an einer anderen
entzündet hat und an eine freie Stelle gestellt hat, dann ist es ein wenig so,
als wäre es der eigene Gedanke oder das Gedenken, was dort ein paar Stunden
lang scheinen wird.
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