Insel. Inseln, das waren schon
immer Sehnsuchtsorte für mich. Als Kind blätterte ich immer im JRO-Weltatlas
meines Vaters herum – Auflage 1953, sozusagen ein Cousin unseres Brockhauses,
aber leider irgendwann einmal verloren gegangen. Ich schaute mir dort die
Karten an, meine Lieblingskarten waren Asien Nördlicher Teil, wegen Sibirien in
seiner unendlichen Ausdrehnung sowie zwei Karten wegen ihrer Inseln: Australien
Nördlicher Teil, eine riesige Doppelkarte mit dem indonesischen Archipel.
Borneo, Java, Sumba, Timor, Neu-Guinea und das merkwürdig geformte Celebes. Das
waren Inseln! Und schließlich Nordostasien, das war im Grunde das Beringmeer und
Alaska mit der Wrangel-Insel und St. Lorenz, und südlich davon, wie eine Perlenkette,
die Alëuten. Ich fuhr mit meinem Kinderfinger die Umrisse der Inseln nach und las
die Namen der Häfen vor. Auf Karopapier malte ich dann selbst erfundene Inseln,
mit erfundenen Häfen, Städten und Binnenflüssen und sogar Landesgrenzen. Und
einer südlichen Spitze, die ich dann mit „Südkap“ beschriftete. - Schwierig war
es, wann man etwas als Insel bezeichnete und wann nicht. Japan ist keine Insel,
Borneo ist eine Insel. Australien ist keine Insel, Neuseeland sind zwei Inseln.
Irgendwie ist Großbritannien auch keine Insel, aber Island. Es braucht also
eine gewisse Kleinheit, um Insel sein zu können, sonst wäre Eurasien auch eine
Insel. Irgendwann einmal verlieren Inseln durch ihre Größe ihre
Inselhaftigkeit. Es ist sozusagen eine kontinentales Kindchenschema notwendig,
um als Insel durchgehen zu können. Grönland hat sich da mit mehr als 2
Millionen Quadratkilometern irgendwie hineingeschummelt. Der Brockhaus macht da
noch eine Abstufung und hat „Eiland“ für eine kleine Insel parat. Das Eiland
sieht etwas aus wie R.L. Stevensons Schatzinsel (das beste aller Inselbücher). –
Es war dann eine glückliche Fügung, daß meine Eltern sich auch eine Insel für
unsere Ferien im Frühjahr und Herbst aussuchten. Nämlich Texel. Und zwar jedes
Frühjahr und jeden Herbst. So konnte ich Texels Inselhaftigkeit mehrfach vor
Ort überprüfen. Es hilft enorm, daß man nur mit der Fähre auf eine Insel kommt,
auch wenn die Überfahrt nur knapp über 2 Seemeilen lang ist. Aber es sind
Seemeilen und eben nicht Kilometer. Auf dem Promenadendeck verfütterte ich ein
übriggebliebenes Fahrtbrot an die dicken Möwen, die problemlos eine halbe
Schnitte im Flug mit dem Schnabel aufschnappten. Texel ist 20km lang und 10km
breit und sieht aus wie ein durch Herbststürme nach Osten gekipptes Osterei.
Trotz ihrer Größe schneidet Texel bezüglich ihrer Inselhaftigkeit sehr gut ab.
Es gibt einen Leuchtturm. Es gibt einen Hafen. Es gibt Wattenküste und unglaublich
viel Strand. Sollte man zwischendurch einmal vergessen haben, auf einer Insel
zu sein, erinnern Wind und Möwen wieder daran. Vielleicht ist das auch der
Trick: Haste Möwen, biste Insel. Zur Vorbereitung dieses Artikels bin ich
gestern einmal um die Insel im Teich des Volksparks Jungfernheide geradelt. Der
Umfang beträgt knapp einen Kilometer. Klein genug für eine Insel ist das ja.
Aber null Inselgefühl. Natürlich auch keine einzige Möwe. – Noch verstärkt wurde
das Inselgefühl auf Texel auch durch das exotische holländische
Imbißbudenangebot: Loempia, Nasi Goreng und Sambal Oelek, das kam direkt von
Batavia aus Niederländisch-Indien, meinem geliebten Java und Sumatra aus dem
JRO-Atlas! Inselessen! Deshalb hielt ich auch Vleeskroket, Berehap und
Frikandel für indonesische Spezialitäten. Nur die Patat Frites, die hatten die
Holländer sozusagen selbst zugesteuert. Wenn man auf Texel eine Patate hoch in
die Luft wirft, kommt die übrigens nicht mehr am Boden an, sondern wird von
einer Möwe weggefuttert. Vielleicht ist das ein guter Inseltest. Aber wie hat
den Grönland bestanden? – Letztes Jahr war ich nach 20 Jahren wieder mal auf
Texel. Die Fähre ist größer geworden, die Möwen noch immer gleich dick. Meine
reizende Begleitung fand das Imbißbudenessen gräßlich, das holländische Gebäck großartig
und die Insel sehr inselig.
P.S. Natürlich, Judith
Schalanskys Atlas der abgelegenen Inseln, was für ein schönes Buch.
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